Von Menschenopfern und anderen Ungeheuerlichkeiten

Leipzig im Dezember 2012, DGAdornoFreud1

Brutal! Ich glaub alles nicht. Uli kratzte sich am Kopf. Natürlich, er hatte diesen Text geschrieben und nun war er weg. Am vergangenen Wochenende die Tagung Kritische Theorie – psychoanalytische Praxis, das Eröffnungsreferat von Prof. Türcke, Kunsthochschule Leipzig. Nicht der berühmte Ägyptologe Prof. Assmann aus Heidelberg eröffnete die Tagung wie angekündigt mit einem Vortrag über die alt ägyptischen Opferriten, sondern der theologische Philosoph Türcke mit einer eigens aus der Schublade gezogenen Idee, die er im Stile des Universalisten Freud mit dem Titel „Opfer und Menschwerdung“ überschrieb und nun den erwartungsvollen Tagungsteilnehmern – einigen Hochschulprofessoren, eine Reihe von Studis und ein paar tätigen Psychoanalytikern – präsentierte. Es war ein eindrücklicher, in sich geschlossener Vortrag von Gedanken, von Hin- und Herleitungen, die zwar logisch erschienen, doch zu unglaublichen Erkenntnissen führten. Genau deshalb entstand der Wunsch in Uli, den Vortrag als Text vor sich zu haben, um diesen abstrusen Unmöglichkeiten nachzugehen, sie nachzuvollziehen, denn gehört und als folgerichtig verstanden, wurden sie durch die nächsten Einsichten verdrängt, so dass sie sich auftürmten zu einem Verständnis davon, woher die menschliche Kultur ihrem Ursprunge nach käme.

Dass war nun eine Woche her und Uli hatte zu rekonstruieren, denn seine ursprüngliche Aufzeichnung blieb verschwunden und das trotz intensivster Suche. Er ärgerte sich, fragte sich gar, ob er nur geträumt hätte über diese Tagung geschrieben zu haben, aber er war sich sicher. Wo war dann diese schon einmal verrichtete Erinnerungsarbeit? Für gewöhnlich schrieb er seine Eindrücke in sein Tagebuch. Sein Laptop speicherte dieses nicht nur auf der internen Harddisk ab, sondern mittels eines online arbeitenden Synchronisationsprogramms wurde es noch einmal extern abgespeichert und war derart auf seinen anderen Computern verfügbar. Das Synchronisationsprogramm speicherte alte und gelöschte Versionen. Er suchte sie durch, nichts. Auch das war unfassbar, unglaublich. Wie konnte das passieren? Wann, wo, wie hatte er einen Fehler gemacht? Zum Ärger gesellten sich Selbstzweifel. Er war ein Versager, eine Null, ein Nichts. Immer, immer wieder machte er Fehler, die seine Leistungsfähigkeit herabsetzten und das in dieser Konkurrenzgesellschaft. Verzweiflung über sich selbst stieg in ihm auf. Er tat sich selber Leid.

Ein anderer Gedanke, als paranoid würden ihn die Psychoanalytiker bezeichnen, ging der Fantasie nach, dass jemand von außen in sein Sychronisationssystem eingedrungen sei und den Text schlicht gelöscht habe. Man wolle nicht, dass er den, Freuds Theorie verbiegenden Vortrag kritisiere und damit den Theologen und dessen Gottesverständnis, denn das war eine Kritik an den herrschenden Gesellschaftskräften, die insbesondere im sächsischen Leipzig christlich dominiert waren.

Es blieb nichts, als noch einmal die Tagung Revue passieren zu lassen und seine Kritik an Türcke neu zu formulieren. Wieso? Es war der professorale Stachel, der schmerzte und den es zu entfernen galt.

Nach besagtem Vortrag hatte er wie erschlagen da gesessen und nichts zu sagen gewusst. Andere waren aufgestanden und hatten das Mikrophon ergriffen und kommentiert, Dank gesagt und kritisiert. Was hatte der Wirth, Hans Jürgen, gesagt? Wirth war bedeutsam für Uli, denn er hatte gerade dessen Buch „Narzissmus und Macht“ entdeckt. Die Freudsche Triebtheorie habe der Türcke falsch ausgelegt. Der eine Prof. wagte es den anderen, Türcke, zu kritisieren und er kritisierte ihn noch einmal am nächsten Tag. Spannung. Wirths Co-Referent, ein Promovend von Türcke versuchte nun mehr sich für seinen Prof. ins Zeug zu legen und Wirth zu kritisieren. Autoritäten, die sich in Abrede stellten, die einander richtig stellten, korrigierten und kein gutes Haar an einander ließen, daher die Glatzen, Gesichtsverlust, Autoritätsverlust, Machtverlust. Das Bild einer harmonisch stimmigen Welt von richtig und wahr zerbrach, zerfiel und machte das, was soeben noch als fast göttlich zu nennende Wahrheit erschien zu einem Meinungs- und Auffassungsstreit und nicht nur das, jeder der Anwesenden war selber gefordert mit seiner Wahrheit, mit seiner Einsicht beizutragen und mit zu tun in diesem Streit um das, was wahr wäre und was von daher am besten für die Menschen, konkret die Klienten, die Analysanden und letztlich für einen selbst sei.

Beim geselligen Abend wurden bezüglich der wissenschaftlichen Streitkultur Geschichten erzählt. Auf der Tagung anno 2003 anlässlich des hundertsten Geburtstags von Adorno wurde fürchterlich gestritten. Ein Mensch sei aufgetreten, der ihm im Habitus, in der Art der Rede, geglichen habe, ein Mime, und Professoren seien wutschnaubend hinaus gerannt, während andere Wut schnaubend auf den Tisch geschlagen hätten. Mithin, wenn da der eine den anderen kritisierte, dann sei das noch gar nichts.

Ersichtlich wurde nur, dass sich die Christenfraktion, um nicht zu sagen die Monotheisten, mit den Pluralisten die Kante gaben. Türcke hatte die Opferung von Menschen in religiösen Ritualen zum Ausgangspunkt universal menschlicher Kulturbildung hoch stilisiert. Es müsse einen Ursprung geben, ein Ereignis am Anfang, eines, dass in seiner singulären Bedeutsamkeit am Anfang der Menschheit stünde. Das klang sehr nach dem Freudschen Urvatermord, den die Brüderhorde unternahm und aus dem die christliche Urschuld erwüchse.

Dieselbe Methodik Freuds wird erkennbar in dessen Narzissmus Forschungen, logische Deduktionen, die sich aus der Betrachtung der Analysen ergeben und auf die Entwicklung des Primär- zum Sekundärnarzissmus schließen lassen. Die Säuglingsforschung, die konkret mittels diverser Untersuchungsmethoden: Videos, Experimente, Langzeit Beobachtungen, die Entwicklung von Säuglingen untersuchte, widerlegt nun teilweise Freud, bestärkt seine Ergebnisse aber auch. Kurz, die empirischen Forschungen relativierten Freuds Einsichten und so mutmaßte Uli verhielte es sich auch mit dem Menschenopfer.

Sie saßen sich bei einem Wein gegenüber, als Uli Türcke zu denken gab, es habe gewiss Hochkulturen wie die Azteken gegeben, die das Menschenopfer praktizierten, auch sei es in der biblischen Abraham und Isaac Geschichte als ein Relikt, als eine Möglichkeit aus der Vorzeit aufgetaucht, aber es ließe sich nicht generalisieren, dass das Menschenopfer universell sei, also von allen Menschheitskulturen praktiziert worden wäre, jedenfalls sprächen dafür nicht die Befunde der ethnologischen Forschungen. Türcke ging darauf nicht ein. Unerwidert ließ er Ulis Argument im Raum stehen und wandte sich einem anderen Tischnachbarn zu. Für ihn galt: Am Anfang stand der Schrecken, die Erfahrung des Todes, der Tod eines Familien-, eines Stammesmitgliedes, die menschliche Ohnmacht gegenüber der Gewalt des Todes, der Verlust. Das sei der Ausgangspunkt einer psychologischen Entwicklung, die zwar nicht die Gewalt des Todes aus der Welt schaffen konnte, jedoch dazu führte, den Tod selbst herbei zu führen, aus der Ohnmachtsposition also in ein aktives Handeln zu kommen. Gehuldigt wurde mit dem Menschenopfer also jener Macht, die als Todesgewalt allgegenwärtig war. Sie sollte durch das Opfer besänftigt werden. Die Furcht vor dem Tod ergab demzufolge auch den Ursprung für die Gottesidee. Ja, selbst die Sprache als veräußertes und materialisiertes Denken resultiere aus diesem psychologischen Aneignungsprozess der Todesgewalt, denn die Emotionalität der Furcht münde in den Urgrund des seelischen Geschehens, dass sich über die Stufen von Halluzination, Imagination bis hin zur Grundlage des Denkens und der Begriffsbildung, dem Vorstellungsvermögen erstrecke. Das waren durchaus logische Herleitungen, beeindruckende Erklärungen eines „So könnte es gewesen sein“, mithin ein Indizienprozess, der zu Türckes Indizienurteil führte. Uli zeigte es die Kraft, die die Vernunft der Logik hatte, sie blendete mit ihrer Strahlkraft andere Fakten aus.

Bezüglich seiner ersten ersten Textversion kam er nun zu dem Ergebnis, er habe wahrscheinlich mit verschiedenen Tagebuchversionen gearbeitet und die mit dem Text schlicht überkopiert. Dennoch, die Möglichkeit bestand und zwar nicht nur für einen tyrannischen Staat und für Hacker, sondern schlicht zu Zwecken der Kommerzialisierung seitens der Synchronisationsfirma, dass in seine Daten eingegriffen wurde.

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